2007 • Die Vermessung der Welt (2 Teile à 90 min)

(148-149) AUTOR: Daniel Kehlmann • PRODUKTION: NDR, 2007 • LÄNGE: 1. Teil ~ 83 min | 2.Teil ~ 88 min • SPRECHER: Michael Rotschopf, Jens Wawrczek, Udo Schenk, Patrick Güldenberg u.v.a.m. • KOMPOSITION: Claudio Puntin • Musik: Sepiasonic BEARBEITUNG & REGIE: Alexander Schuhmacher • CD-RELEASE: Deutsche Grammophon (3CD) •

• EBENBÜRTIG

‚Inhaltliche Fülle und stilistische Bravour (…) können nicht (darüber) hinwegtäuschen: Es ist eine einprägsame, erfundene Anekdote. Mehr nicht.“ So bilanzierte Hubert winkels in der ZEIT seine Lob und Tadel klug abwägende Kritik zu Daniel Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“ (2005). Der Kritiker attestiert dem Autor aber unzutreffend eine „Doppelbiografie in Romanform“. Tatsächlich entwirft das episodisch strukturierte Erzählen ein doppelportrait zweier Wissenschaftler, die auf ihre spezifische Art Abenteurer waren: des Empirikers und Forschungsreisenden Alexander von Humboldt, und de Theoretikers, Matematikers und Astronomen Carl Friedrich Gauß. Forscherdrang und Abenteuerlust führten Humboldt nach Mittel- und Südamerika, Gauß explizierte seine Theorien daheim in Göttingen im Kopf, und der Roman Stellt am Schluss den Protagonisten und den Lesern die Frage: „Wer ist weiter herumgekommen und wer ist immer zuhause geblieben?“. Die Antwort auf die pointierte Frage  „Was bleibt außer Den epochalen Endeckungen der zwei Weltvermesser?“ bleibt offen, doch das Interesse für die beiden faszinierenden Gelehrtenpersönlichkeiten ist geweckt.

Der Erfolg des Romans mag die Begehrlichkeit der NDR-Hörspieldramaturgie beflügelt haben, aber allein schon die Kontrastierung der Abenteuer Humboldts mit den mathematisch-experimentellen Abenteuern in Gauß’ Kopf bietet viele Reize für eine hörspielgenuine Darstellung: akustische Räume bebildern das Kino im Kopf; dialoge und Innere Monologe bieten Möglichkeiten simultaner Raffung und Pointierung, Personen werden durch ihre Sprecher charakterisiert. Alexander Schuhmacher, der Bearbeiter und Regisseur in Personalunion, installiert im Hörspiel „nach dem Roman“ plausibel zwei Erzähler: Humboldts langjährigen Expeditionsgefährten Bonpland und Gauß Sohn Eugen, die sich in Teneriffa zufällig begegnen und ihre Erfahrungen austauschen, die sie mit Den bedeutenden forschern gemacht haben. Sie Erzählen die Geschichte aus ihrer Sicht, bieten Hintergrundinformationen, leiten zu den in Rückblenden gespielten Episoden über und reflektieren über die unterschiedlichen Obsessionen der beiden Forscher. Dabei gelingt dem Berbeiter das Kunststück, den ohne wörtliche Rede geschriebenen Roman in dialoge zu übersetzen, die wie ‚authentisch Kehlmann’ klingen. Und das Hörspiel wartet mit brillanten Inszenierungseinfällen auf, etwa beim Kurzbesuch von Gauß beim senilen Kant, der nicht viel mehr als „Wurst“ stammelt, oder dem bei der Kopulation mathematische Formeln entwerfenden Gauß.

Jens Wawrczek als Bonplan ist der Primus inter pares der mehr als 50 Sprecher, Udo Schenk als Gauß und Michael Rotschopf als Humboldt entwerfen differenzierte Portraitstudien, und mit Dietmar Mues, Traugott Buhre und Werner Rehm – um nur einige Namen zu nennen – sind auch die kleinsten Rollen opulent besetzt. In rund 170 Minuten Hörspielzeit hat Schuhmacher sehr viel vom Inhalt des 304-Seiten-romans ztansportiert (über ausgespartes liefe sich trefflich Streiten), er hat im fokusdes Doppelportraits interessante und aussagekräftige Episoden ausgewählt und in immer sofort identifizierbaren akustischen Kulissen inszeniert. Die eher illustrativ-dekorative Musikkomposition Claudio Puntins komplettiert diese Hörspielrealisation, die höchste Unterhaltungsbedürfnisse erfüllt, viel wissenswertes bietet und in diesen Dimensionen der Romanvorlage ebenbürtig ist.

Quelle: 21.12.2007 – Norbert Schachtsiek-Freitag/FunkKorrespondenz

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